Ansprache zur Namensgebung 1999

Ansprache anläßlich der Namengebung des Erich-Gutenberg-Berufskollegs in Köln

am 14. Juni 1999.

Erich Gutenberg

von Horst Albach

Wer war Erich Gutenberg, der Ihrer Schule den Namen verleiht? Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich Ihnen die Namen der Schulen nennen, die ich besucht habe:

  • die Justus v. Liebig-Schule in Gießen und
  • die Carl Humann-Schule in Essen.

Der eine, Justus v. Liebig, ist bekannt geworden dadurch, dass er die chemische Düngung eingeführt und damit die Landwirtschaft effizienter gemacht hat.

Der andere, Carl Humann, ist bekannt geworden dadurch, dass er den Pergamon-Altar entdeckte. Damit revolutionierte er das Bild von den alten Griechen in der deutschen Philologie und im deutschen Bildungsbürgertum.

Aber wer war Erich Gutenberg? Ihm ist keine deutsche Briefmarke gewidmet wie Justus v. Liebig. Ihm wurde kein Museum gewidmet wie Carl Humann und seinem Pergamon-Altar in Berlin.

Und doch hat er beides getan: die Industriewirtschaft effizienter gemacht und die Betriebswirtschaftslehre und das Wirtschaftsbürgertum revolutioniert.

Das möchte ich Ihnen an einigen Beispielen deutlich machen:

  1. Die älteren Wissenschaftler, vor allem Turgot, hatten behauptet: Je mehr Arbeit eingesetzt wird, desto kleiner wird der zusätzliche Ertrag, den zusätzlichen Arbeiter erwirtschaften können. Gutenberg erkannt: Jeder Arbeiter gleicher Qualifikation ist gleich produktiv. Grenzertrag und Grenzkosten sind bei gegebener Technologie konstant. Damit schuf Erich Gutenberg die theoretische Grundlage für das moderne Rechnungswesen in den Unternehmen: die Deckungsbeitragsrechnung. Sie hat die Industrieunternehmen effizienter gemacht.
  2. Karl Marx hatte argumentiert, die profitgierigen Kapitalisten ersetzten immer mehr Menschen durch Maschinen. Die Armut unter den Arbeitern werde dadurch immer größer. Damit hatte er eine tiefe gesellschaftliche Kluft zwischen Arbeiterklasse und dem Bürgertum geschaffen. Erich Gutenberg revolutionierte das Bild der Unternehmen im Wirtschaftsbürgertum und bei den Arbeitern. Bei einem gegebenen Stand des technischen Wissens sind die Bürger oder Kapitalisten und die Arbeiter unlöslich aufeinander angewiesen.
  3. Frederic Winslow Taylor hatte in seiner „Wissenschaftlichen Betriebsführung“ die Menschen wie willenlose Roboter gesehen. Erich Gutenberg dagegen zeigte, dass das Ergebnis menschlicher Arbeit im Betrieb von Bedingungen abhängt, die der Arbeitgeber, der Mitarbeiter selbst und beide zusammen beeinflussen können. Je besser die Zusammenarbeit zwischen Arbeitnehmer und Vorgesetztem im Betrieb funktioniert, desto höher und besser ist das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit.
  4. Die Wissenschaftler hatten zwar erkannt, dass die Märkte nicht so vollkommen waren, wie es noch Adam Smith angenommen hatte, aber sie hatten die Unvollkommenheiten auf außerhalb das Unternehmens liegende Faktoren zurückgeführt, also auf die besonderen Vorlieben von Konsumenten, sich von anderen zu unterscheiden, oder auch auf unterschiedliche Rechtsvorschriften und Steuersysteme. Erich Gutenberg erkannte, dass der Unternehmer diese Unvollkommenheiten zu seinem Vorteil beeinflussen kann. Damit wurde Erich Gutenberg zum Schöpfer der modernen Marketing-Lehre.

Vieles von dem, was ich eben über die Entdeckungen und Erkenntnisse von Erich Gutenberg gesagt habe, erscheint Ihnen und uns allen heute sicher selbstverständlich. Das ist immer das Zeichen einer fruchtbaren Entdeckung. Denken wir noch einmal an Justus v. Liebig. Er befürchtete, sein Dünger würde vom Regen fortgewaschen. Er werde von den Pflanzen nicht aufgenommen werden können, wenn er nicht wasserlöslich sei. Als Liebig seinen Irrtum erkannt, soll er gesagt haben: „Ich wollte wohl klüger sein als Gott!“. Heute scheint uns ganz selbstverständlich, dass die Wurzeln der Pflanzen den Dünger gelöst im Regenwasser aufnehmen. Nicht anders ist es in den Wirtschaftswissenschaften: die großen Entdeckungen erscheinen uns, sind sie einmal gemacht, ganz simpel und selbstverständlich.

Was waren das nun für Zeiten, in denen die Erkenntnisse Erich Gutenbergs keineswegs selbstverständlich, sondern in Praxis und Wissenschaft äußerst umstritten waren?

Erich Gutenberg wurde im Jahre 1897 geboren. Das war die wilhelminische Kaiserzeit, die Zeit der Monarchie in Deutschland. Es war die Zeit des Klassenkampfes und der Sozialgesetze, die das Elend der Arbeiterklasse lindern sollten. Es war die Zeit des wirtschaftlichen Liberalismus, der Blüte der Gewerbefreiheit und des aufstrebenden Bürgertums.

Dann kam die Zeit des Nationalsozialismus. Erich Gutenberg konnte zunächst nicht Professor werden, weil der nationalsozialistische Dozentenbund seine Berufung auf einen Lehrstuhl immer wieder verhinderte. So erfuhr Gutenberg als Wirtschaftsprüfer in der Praxis, was es heißt, Unternehmer in einer zentral gelenkten Wirtschaft zu sein.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte Gutenberg zunächst den Aufbau des Sozialismus in Thüringen und dann die Entwicklung zur sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland. In dieser Zeit wurde das Bild vom Unternehmer in sozialer Verantwortung entwickelt.

Aus diesen Erfahrungen heraus entstand Gutenbergs Lehre von den Unternehmens- und Betriebstypen: Es gibt Elemente betrieblicher Tätigkeit, die in allen Wirtschaftsordnungen gleich sind. Sie werden aber „kategoral umklammert“ von den Faktoren, welche die jeweiligen Wirtschaftsordnung, die sozialistische oder die kapitalistische, kennzeichnen. Diese Lehre hilft uns heute zu verstehen, warum die Transformation der Unternehmen in den neuen Bundesländern so schwierig ist und so lange dauert. Die Hirne der Menschen in den Betrieben werden eben auch „kategoral umklammert“ von der herrschenden Wirtschaftsordnung, und es dauert seine Zeit, bis die neue Wirtschaftsordnung als Kategorie des Denkens und des Verhaltens in den Köpfen der Menschen fest verankert ist.

Erich Gutenberg war ein sehr feinfühliger, warmherziger und sensibler Mensch. Er hatte, als er seine „Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre“ schrieb, zwei Weltkriege mitgemacht, hatte den Bankrott des elterlichen Unternehmens in der Hyperinflation der zwanziger Jahre erlebt, war von den Russen aus Jena vertrieben Worden. Er hatte die Niedertracht von Menschen uns Kollegen im Nationalsozialismus, aber auch später in der Bundesrepublik erlebt und die Schwächen der Menschen, auch die eigenen, erfahren. Und doch war er ein Optimist geblieben, ein Mensch, der den Menschen im Betrieb sah, wie er sein sollte, und weniger, wie er häufig ist. Das Wort aus Goethes Faust: „Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten Weges stets bewusst!“ gilt für den Menschen in Gutenbergs Betriebswirtschaftslehre. Da findet sich nichts von dem Menschenbild, das jedem unterstellt, er maximiere seinen eigenen Nutzen, auch wenn es zum Schaden von Vorgesetzten und Kollegen ist. Diese Grundannahme der angeblich so „modernen“ Vertragstheorie der Unternehmung war Gutenbergs Denken völlig fremd.

Es war nach meiner Erfahrung diese Grundeinstellung und die damit eng verbundene Güte Erich Gutenbergs vor allem gegenüber seinen Studenten, welche die Faszination seiner Persönlichkeit, aber auch seines Werkes ausmachten.

Faszination ging aber wohl letztlich von Gutenbergs Verständnis von Wissenschaft aus. Gutenberg selbst sprach von der „Faszination durch Wissenschaft“. „Wissenschaft“, so sagte er*, „ist ein ständig sich vollziehender Prozess. Jedes neu erworbene Wissen ist immer nur Durchgang“. Und er ergänzte**: „Das verfügbare Wissen ist also seinem Grundcharakter nach immer nur ein transitorisches Wissen. Aus dieser Tatsache folgt die Schwierigkeit, für praktische und auch für schulische Zwecke zu bestimmen, was aus den großen Wissenbeständen“ im schulischen Unterricht an praktisch Verwertbarem, „d.h., im späteren Beruf verwendbarem Wissen vermittelt“ werden soll. „In jedem Unterricht, gleich welcher Art und wo er sich vollzieht, werden immer kleine Bruchteile aus den großen Beständen des gesamten menschlichen Wissens realisiert und durch die Lehrenden an die Lernenden vermittelt“.

Sie können stolz darauf sein, dass Ihre Schule nun den Namen Erich Gutenbergs trägt. Sie können aber auch erleichtert aufatmen: Der Name verpflichtet Sie zu nichts. Erich Gutenberg wollte nie eine „Schule“ gründen – eine Schule im wissenschaftlichen Sinne natürlich. Er wollte, dass seine Schüler ungebunden nach der Wahrheit und nach der Lösung der betriebswirtschaftlichen Problem ihrer Zeit suchen. Er wollte sicher auch nicht, so meine ich, dass eine Schule nach ihm benannt würde, die daraus eine andere Verpflichtung ableitet als die, junge Menschen für die Wirtschaft heranzubilden, die ihren Beruf kompetent ausüben können und damit dazu beitragen, dass unsere Welt etwas besser wird.

Ich schließe mit einem Wunsch, den Erich Gutenberg Schülern einer Berufsschule mit auf den Weg gegeben hat***: „Dass viele Schüler Ihrer Schule von der Faszination durch Wissenschaft etwas verspüren möchten, das ist mein Wunsch für heute und für alle Zukunft.“

Ich danke Ihnen.


* Gutenberg, Erich: Vortrag aus Anlaß der Einweihung der Erich-Gutenberg-Schule in Bünde am 2. Juni 1973, in: Albach, Horst (Hrsg.): Zur Theorie der Unternehmung. Schriften und Reden von Erich Gutenberg. Aus dem Nachlaß, Berlin-Heidelberg-New York-London-Paris-Tokyo 1989, S. 204 – 207.

** Gutenberg, Erich: Ansprache aus Anlaß der Einführung des neuen Oberstudiendirektors und Leiters der Erich-Gutenberg-Schule in Bünde, Herrn Falk Heyds, am 18. Januar 1977, in: Albach, Horst (Hrsg.): a.a.O., S. 209 – 211, hier S. 210 f.

*** Gutenberg, Erich: Vortrag aus Anlaß der Einweihung der Erich-Gutenberg-Schule in Bünde, a.a.O.